Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft

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Projekt 'Performance'
Aussprache und Rezitation lateinischer und griechischer Texte (mit Audio-Files)

Cicero, Pro Sexto Roscio Amerino, § 64f.

Anekdote über die Ermordung des Titus Caelius von Tarracina und die Freisprechung seiner Söhne vom Vatermord, meisterhaft erzählt von Cicero in seiner frühen Rede Pro Sexto Roscio Amerino (64f.). Der Text ist im Hinblick auf seine Rezitation besprochen im Aufsatz 'Cicero der Sprachkünstler, oder Plauderei über lateinische Wortstellung', in A. Hornung, Ch. Jäkel und W. Schubert [Hg.], Studia Humanitatis ac Litterarum Trifolio Heidelbergensi dedicata. Festschrift für Eckhard Christmann, Wilfried Edelmaier und Rudolf Kettemann [= Studien zur klassischen Philologie, 144], Frankfurt a/M etc., 2004, 359–75.

Non ita multis ante annis aiunt T. Caelium quendam Tarracinensem, hominem non obscurum,

Vor einigen Jahren, sagt man, sei ein gewisser Titus Caelius von Tarracina, kein ganz unbekannter Mann,

cum cenatus cubitum in idem conclave cum duobus adulescentibus filiis isset,

nachdem er nach dem Abendessen mit seinen beiden herangewachsenen Söhnen in das gemeinsame Schlafgemach zur Ruhe gegangen war,

inventum esse mane iugulatum.

am Morgen mit durchschnittener Kehle aufgefunden worden.

Cum neque servus quisquam reperiretur neque liber ad quem ea suspicio pertineret,
id aetatis autem duo filii propter cubantes ne sensisse quidem se dicerent,

Als sich weder irgendein Sklave noch ein freier Mann fand, auf den der Verdacht fallen konnte,
jedoch die zwei schon grossen Söhne, die unmittelbar daneben die Nacht verbracht hatten, behaupteten, sie hätten von alledem nichts gemerkt,

nomina filiorum de parricidio delata sunt.

wurden die Söhne des Vatermordes angeklagt.

Quid poterat tam esse suspiciosum?

Was hätte verdächtiger sein können als das?

Neutrumne sensisse?

Keiner der beiden sollte etwas gemerkt haben?

Ausum autem esse quemquam se in id conclave committere eo potissimum tempore,

Hingegen sollte einer gewagt haben, in jenes Schlafgemach einzudringen ausgerechnet zu der Zeit,

cum ibidem essent duo adulescentes filii qui et sentire et defendere facile possent?

als zwei herangewachsene Söhne zugegen waren, die dies leicht hätten bemerken und abwehren können?

Erat porro nemo in quem ea suspicio conveniret.

Im übrigen war niemand da, auf den der Verdacht passte.

Tamen,

Trotzdem wurden die Jünglinge,

cum planum iudicibus esset factum aperto ostio dormientis eos repertos esse,

als den Richtern klar gemacht worden war, dass sie bei unverschlossener Haustüre und schlafend aufgefunden worden waren,

iudicio absoluti adulescentes et suspicione omni liberati sunt.

durch das Urteil freigesprochen und von jedem Verdacht entlastet.

Nemo enim putabat quemquam esse qui,

Niemand nämlich glaubte, es könnte jemanden geben, der,

cum omnia divina atque humana iura scelere nefario polluisset,

nachdem er alles göttliche und menschliche Recht durch ein unbeschreibliches Verbrechen beschmutzt hätte,

somnum statim capere potuisset,
propterea quod

auf der Stelle einzuschlafen imstande gewesen wäre,
deswegen, weil Menschen,

qui tantum facinus commiserunt

die ein derartiges Verbrechen begangen haben,

non modo sine cura quiescere sed ne spirare quidem sine metu possunt.

nicht nur nicht sorglos ruhen, sondern nicht einmal ohne Furcht atmen können.


Anmerkung für die Freunde der lateinischen Grammatik: Zum – streng logisch – fehlenden non im letzten Teilsatz (nach non modo), und überhaupt zur Konstruktion non modo ... sed ne ... quidem mit dem Prädikat beim zweiten Glied, s. die Grammatik von Kühner-Stegmann (2, 62f.).

 

 
   
Inhalt: Rudolf Wachter, Webmaster: info-klaphil@unibas.ch, 25.06.2003