Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft

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Projekt 'Performance'
Aussprache und Rezitation lateinischer und griechischer Texte (mit Audio-Files)

Die "richtige" Aussprache des Altgriechischen

--- Audiofiles folgen baldmöglichst ---

1. Eine allein richtige Aussprache des Altgriechischen gab es sowenig wie eine des Lateins. Im Falle des Griechischen wissen wir sogar von einer noch viel grösseren Vielfalt, da der griechische Sprachraum zur Zeit Homers, als die Griechen das Alphabet aus dem Nahen Osten übernahmen und meisterhaft für ihre Zwecke einrichteten, in viele Dialektregionen aufgesplittert war. Die Unterschiede zwischen diesen Dialekten konnten in der Schrift gar nicht alle wiedergegeben werden, doch treten auch so noch sehr viele zutage. Die Dialektvielfalt ging dann zwar durch Kontakte, Migration und schliesslich durch die "Globalisierung" des Hellenismus deutlich zurück, verschwand jedoch nie ganz.

Auch im Falle des Griechischen kann die Sprachwissenschaft vieles in der Aussprache erschliessen und daraus eine plausible Gesamtaussprache rekonstruieren. Zur dialektalen Vielfalt kommt aber auch hier als erschwerender Faktor die Zeit dazu, und zwar noch viel ausgeprägter als im Latein: Das Altgriechische der Antike ist ja (sogar wenn wir die mykenische Epoche von ca. 1400–1200 v. Chr. nicht miteinrechnen) über fast eineinhalb Jahrtausende hinweg beobachtbar, und es geht aus den Zeugnissen eindeutig hervor, dass sich die Aussprache während dieser Zeit fundamental verändert hat.

Woran sollen wir uns also halten? Wir könnten verschiedene Aussprachen pflegen, z.B. eine für Homer, eine für das klassische Attische, eine für die hellenistische Koine, eine für die spätantike Kaiserzeit und den Beginn der byzantinischen Epoche. Doch das wäre höchst mühsam! Und wie würden wir es mit einem Homerzitat in einem späten Text halten? Der betreffende Autor hätte Homer bestimmt nicht in dessen originaler Aussprache rezitiert (die er wohl gar nicht mehr wusste), sondern genauso, wie er selbst das Griechische aussprach. Auch heute wird Homer und die ganze antike Literatur in Griechenland auf neugriechische Weise ausgesprochen. Das Griechische hat nie einen Traditionsbruch mit anschliessender Orthographiereform erlebt und sich auch nicht aufgeteilt wie das Latein, wo nun viele verschiedene "neulateinische" Sprachen den Anspruch erheben könnten, die authentische Aussprache fortzusetzen. Das Griechische ist also im Grunde genommen noch heute "dieselbe" Sprache wie in der Antike.

Dennoch ist es natürlich sinnvoll, für das Altgriechische der archaischen, klassischen und hellenistischen Zeit eine vom heutigen Neugriechischen abweichende, dem originalen Lautstand in Quantität und Qualität näherstehende Aussprache anzustreben: in Quantität, um die Poesie in der richtigen Metrik, d.h. mit ihrem originalen Rhythmus lesen zu können; in Qualität, weil es sonst zum Beispiel nicht nachvollziehbar wäre, wie es z.B. von einem ποιητής, das heute [piitís] ausgesprochen wird, zu lat. poēta, frz. poète usw. hätte kommen können. Aus praktischen Gründen sollten wir für das Altgriechische aber eine einzige Aussprache haben. Am ehesten eignet sich dafür die des klassischen Attischen des 5./4. Jhs. v. Chr., das wir besonders gut kennen und das uns ja auch für die "Grammatik" als Leitlinie dient (und nicht nur uns, sondern auch schon vielen gebildeten Griechen in Hellenismus, Kaiserzeit und Spätantike!). Wir müssen uns aber bewusst sein, dass diese Aussprache für einen archaischen Text zu modern, für einen kaiserzeitlichen Text zu archaisch und z.B. für einen lyrischen Text zu sehr attisch gefärbt sein wird (in letzterem Fall etwa so, wie wenn ein Zürcher einen berndeutschen Text vorliest).

Traditionell wird heute in Westeuropa mehr oder weniger genau die Aussprache verwendet, die Erasmus von Rotterdam geschaffen hat. Diese befriedigt jedoch auch nicht in allen Punkten, da sie zu stark auf das Deutsche Rücksicht nimmt: Es hat beispielsweise nie eine Zeit gegeben, wo φ wie in Fell, χ wie in Dach oder Licht, aber θ als [th] wie in Tee, Theater ausgesprochen wurde. Entweder standen alle drei Zeichen φ, χ, θ für aspirierte Verschlusslaute, also wie p, k, t im Wortanlaut im heutigen (Nord-)Deutschen oder Englischen (das war grosso modo der Zustand in vorchristlicher Zeit), oder sie standen alle drei für die Reibelaute in Fell, Dach/Licht und engl. think (dies ist der Zustand von der Zeitenwende bis heute; in einigen Dialekten hatte dieser Lautwandel freilich schon früher begonnen, wie man z.B. am imitierten Lakonisch der Spartanerin Λαμπιτώ in Aristophanes' Lysistrate sehen kann).


2. Bevor wir uns die einzelnen Laute vornehmen, werfen wir einen Blick auf das griechische Alphabet der Antike. Es besteht nur aus Grossbuchstaben (den Unterschied zwischen Gross- und Kleinbuchstaben gibt es auch im Griechischen erst seit dem Mittelalter), und ist seit etwa 400 v. Chr. einheitlich. Vorher hatten in den Dialektgebieten verschiedenste Lokalalphabete existiert, die sich sofort nach der Alphabetübernahme im 8. Jh. gebildet hatten. Das panhellenische Einheitsalphabet ist wohlgemerkt nicht das attische Lokalalphabet, sondern das ostgriechische v.a. der ionischen Städte Kleinasiens, in dem z.B. die homerischen Epen geschrieben waren. Es enthält folgende 24 Zeichen:

Α Β Γ Δ Ε Ζ Η Θ Ι Κ Λ Μ Ν Ξ Ο Π Ρ Σ Τ Υ Φ Χ Ψ Ω

Seit dem Hellenismus wurden zudem προσῳδίαι gesetzt (wir benutzen die lat. Übersetzung dieses Begriffs: accentus -ūs), vor allem zur Markierung der Vokale betonter Silben und der Präsenz oder Absenz eines anlautenden h- (spīritus asper bzw. lēnis), für das das ostgriechische Alphabet kein Zeichen besass. (Andere Lokalalphabete, z.B. das attische oder auch das euböische, aus dem sich schon früh das lateinische Alphabet ableitete, hatten den Buchstaben H [Hēta] dafür verwendet, und man wollte im panhellenischen Einheitsalphabet auf die Notierung dieses h nicht verzichten.) Die Regelung der Akzentsetzung, die wir heute lernen (mit accentus acūtus, gravis und circumflexus), stammt aus der byzantinischen Epoche, und wir werden sehen, dass nicht alles daran ganz richtig sein kann.

3. Die Vokale des klassischen Attischen sind i, e, a, o, ü, die sowohl lang als auch kurz sein können, was wie im Latein und in vielen anderen frühen idg. Sprachen genau zu beachten ist. Es ist wahrscheinlich, dass langes ē und ō (geschrieben η und ω) etwas offener ausgesprochen wurden als die kurzen e und o (geschrieben ε und ο). Bei i, a, und ü kann die Quantität in der Schrift nicht unterschieden werden; in der Neuzeit gleicht man diesen Mangel manchmal mit horizontalen Strichen auf Langvokalen aus: ἄλῡπος 'ohne Trauer', ἡ λῡ́πη 'die Trauer'.

Es gibt ferner Diphthonge, d.h. Vokale, die während ihrer Dauer ihre Qualität verändern und deshalb immer als lang gelten: αι, αυ, ει, ευ, οι, ου, υι, ferner die sog. Langdiphthonge ᾱι, ηι, ωι, die oft ᾳ, ῃ, ? geschrieben werden, sowie selten ηυ und ωυ (ein Ypsilon an zweiter Stelle in einem Diphthong wird als [u], nicht [ü] ausgesprochen). Diese Diphthonge müssen zu Beginn der alphabetischen Zeit, als ihre Schreibweise festgelegt wurde, etwa der kombinierten Aussprache der beiden zusammengefügten Buchstaben entsprochen haben: ευ = [e-u], ωι = [ō-i] usw. (also ει und ευ nicht wie in deutsch frei und neu!). Sie veränderten sich aber in der Folge allesamt, wenn auch zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlicher Weise: Zuerst haben sich die Diphthonge mit kleiner phonetischer Spannweite, [ei] und [ou] zu Langvokalen entwickelt, wohl zunächst, und zwar noch in archaischer Zeit, zu einem sehr geschlossenen [ē] und [ō], dann ab der klassischen Zeit weiter zu [ī] und [ū], was sie noch heute sind. So sind auch die griechischen Dialekte, in denen das alte [u] zu [ü] geworden war (vgl. attisch μῦς mit -ü-, aber lat., schweizerdt., sanskrit usw. mit -ū-), wieder zu einem [u] gekommen, allerdings nur zu einem langen. Weiter haben die Langdiphthonge ihre [i]-Komponente verloren (deshalb hat man dieses später nur noch unter, nicht mehr neben den Hauptvokal geschrieben: iōta subscrīptum). Auch dies begann schon in archaischer Zeit. Etwas später, aber in einigen Dialekten ebenfalls schon in klassischer Zeit, begannen die i-Diphthonge mit grösserer Spannweite zu Monophthongen zu werden: αι wurde langes offenes [ē], οι wurde langes [ü¯] (vielleicht via [ö¯]). Die u-Diphthonge αυ und ευ dagegen machten eine ganz andere Entwicklung durch: Sie wurden in der Kaiserzeit allmählich zu dem, was sie heute sind, nämlich [av]/[af], [ev]/[ef], mit, je nachdem, was folgt, stimmhaftem oder stimmlosem Reibelaut statt der alten u-Komponente.

Auch von den Vokalen (Monophthongen) veränderten sich die meisten noch drastisch: Etwa um die Zeitenwende fing η an, zu geschlossenem [ē] und schliesslich zu [ī] zu werden, in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit wurde – wie übrigens auch im Latein – die Quantitätenregelung völlig umgestossen (von jetzt an waren betonte Silben lang, unbetonte kurz, d.h. Vokale wurden wenn nötig gelängt bzw. gekürzt), und in byzantinischer Zeit wurden schliesslich noch alle [ü] zu [i]. Für die heutigen Griechen ist die Orthographie, die aus Ehrfurcht vor dem Altgriechischen nie fundamental reformiert worden ist, deshalb eine wahre Knacknuss. Wenn man ein [i] spricht, könnte es ι, ει, η, οι oder υ sein; wenn man ein [e] spricht, ε oder αι; wenn man ein [o] spricht, ο oder ω! Nur das Englische ist noch schlimmer: be, sea, see, receive, people, key, police, believe, Caesar, Caius, quay, Phoebus, Beauchamp (gibt's noch mehr Arten, ein langes [ī] zu schreiben?). Im Neugriechischen werden heute sogar Orthographien verändert, z.T. ohne ersichtlichen Grund: z.B. schreibt man das Wort für 'Leber' heute manchmal σηκότι statt συκώτι, wodurch verschleiert wird, dass es von σύκον (altgr. σῦκον) abgeleitet ist (das bis heute nie mit Eta geschrieben wird); die Römer haben den Griechen die Feigenmast der armen Gänse übrigens abgeschaut und übersetzten (ἧπαρ) σῡκωτόν mit (iecur) fīcatum, woraus fegato, hígado, foie geworden ist.

Das letzte, was im Bereich des Vokalismus zu besprechen ist, sind die sogenannten unechten Diphthonge ει und ου. In klassischer Zeit, als ihre Schreibweise fixiert wurde, müssen sie ähnlich wie die "echten" ει und ου (z.B. in δείκνυμι, πλοῦτος) ausgesprochen worden sein, die damals gerade dabei waren, zu Monophthongen zu werden. Die "unechten" sind deshalb höchstwahrscheinlich gar nie als Diphthonge ausgesprochen worden. Sie sind das Resultat aus zwei ganz verschiedenen Entwicklungen: Teilweise sind sie aus zwei kontrahierten Kurzvokalen entstanden, z.B. in ποιεῖτε < ποιέετε, δουλοῦμεν < δουλόομεν, Θου- (z.B. in Θουκῡδίδης) < Θεο- usw.; teilweise aus ersatzgedehnten Kurzvokalen nach Ausfall eines n, um den Wegfall der Längung durch die ursprüngliche, jetzt vereinfachte Konsonantengruppe ("Positionslänge", s. 5) zu kompensieren, z.B. in den fem. Partizipien wie βλέπουσα < *-onsa (< *-ont-ja), μιγεῖσα < *-ensa (< *-ent-ja), oder im Akk. plur. -ους (genau wie in -ᾱς, im Dialekt von Argos noch -ονς -ανς), in εἰς (< *ens, zu ἐν, wie ἐξ zu ἐκ, lat. abs zu ab) usw.

4. Nun zu den Konsonanten: Die Laute [b, d, g] (stimmhaft, geschrieben β, δ, γ) und [p, t, k] (stimmlos, π, τ, κ) sind wie in den romanischen Sprachen zu sprechen. Die stimmlosen Laute hatten also kein nachfolgendes [h] (wie oft im Norddeutschen und Englischen). Eine solche Aspiration hatten aber in archaischer Zeit die Aspiraten: [ph, th, kh] (stimmlos, φ, θ, χ), die, wie gesagt, im Hellenismus zu Reibelauten wurden. Wir empfehlen für das Attische des 4. Jhs. eine Übergangsaussprache: Verschlusslaut mit eher reibendem als hauchendem Nachklang. Auch die stimmhaften Verschlusslaute [b, d, g] wurden schon in der Antike, wohl an den meisten Orten während der Kaiserzeit, zu dem, was sie heute in den meisten Positionen sind, nämlich stimmhafte Reibelaute.







Die Dauerlaute [l, r, m, n] (λ, ρ, μ, ν) sind etwa wie heute auszusprechen (stimmhaft), das [r] war wohl meist gerollt. Das [s] (σ, ς) war dagegen stimmlos (etwa wie im Neugriechischen oder Spanischen). Drei Zeichen stehen für Kombinationen aus zwei Lauten: ξ für [ks] und ψ für [ps], beide stimmlos; dagegen stimmhaft ζ für [zd] bzw. [dz] (wohl regional verschieden), später nur noch [z] (wie in engl. zoo und im Neugriechischen). Die Aspiration vor vokalischem Anlaut wurde in gewissen Dialekten schon von Anfang der alphabetischen Periode an nicht mehr gesprochen, in anderen blieb sie noch viele Jahrhunderte – übrigens auch im Innern von Komposita (so ist Πάνορμος, heute Palermo, in römischer Zeit mit lat. Buchstaben noch Panhormus geschrieben worden).

5. Sehr wichtig für den Klang der altgriechischen Sprache und insbesondere der Poesie ist der Rhythmus der Silben und Wörter. Eine Silbe kann entweder lang oder kurz sein, wobei eine lange Silbe etwa doppelt so lang wie eine kurze ist. Ein Wort wie βουλόμεθα 'wir wollen' beispielweise hat den Rhythmus "lang-kurz-kurz-kurz" (dō-di-di-di, wie das B im Morsealphabet) und misst somit zweieinhalb Längen oder fünf Kürzen, δυνάμεθα 'wir können' hat den Rhythmus "kurz-kurz-kurz-kurz" (di-di-di-di, wie das H im Morsealphabet) und misst zwei Längen oder vier Kürzen, die Nebenform δυνάμεσθα 'wir können' dagegen "kurz-kurz-lang-kurz" (di-di-dō-di, wie das F im Morsealphabet) und zweieinhalb Längen oder fünf Kürzen.

Wie im Latein gibt es zwei mögliche Gründe, warum eine Silbe lang ist: Erstens weil ihr Vokal lang ist ("Naturlänge", sie ist "nāturā lang"). Zweitens weil auf den Vokal, auch wenn er kurz ist, so viele Konsonanten folgen, dass die Silbe nicht schnell genug, d.h. kurz, ausgesprochen werden kann ("Positionslänge", sie ist "positiōne lang"). In δυνάμεσθα etwa benötigt die Gruppe [sth] so viel mehr Zeit als das einfache [th] in δυνάμεθα, dass die dritte Silbe dadurch lang wird. Die einzigen Konsonantengruppen, die viele für schnell aussprechbar halten, sind diejenigen vom Typ [br], [fl] (sogenannte Gruppen "mūta cum liquidā"): κέκληται beispielsweise wird als di-dō-di gemessen, allerdings nicht zu allen Zeiten und in allen Dialekten. Bei Homer längt muta cum liquida die Silbe normalerweise, im klassischen Attischen dagegen meist nicht. Als vollwertige Konsonantengruppen, die eine Silbe längen, gelten auch die Langkonsonanten, die man deshalb sinnvollerweise doppelt schreibt (sog. Geminaten): γράμματα gilt als dō-di-di. Die Griechen haben in der Aussprache deutlich unterschieden zwischen ἔβαλε 'er warf (einmal)' (Aorist, di-di-di) und ἔβαλλε 'er warf (wiederholt)' (Imperfekt, di-dō-di), und wir müssen diesen Unterschied ebenfalls sorgfältig beachten. In ἔβαλλε ist das [a] ebenso kurz wie in ἔβαλε, aber das folgende [l:] (λλ) ist lang, also ist die ganze Silbe lang. Dasselbe gilt für lange Verschluss(öffnungs)laute; da diese nicht wirklich lang ausgesprochen werden können, wird der Verschluss mit Verzögerung aufgebrochen: ἵππος 'Pferd' wird -di gemessen.

Sinnvoll sind in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnungen "offene" und "geschlossene" Silben. Wenn wir die Wörter und Sätze in Silben zerlegen und beobachten, wo die Silbengrenzen liegen, stellen wir fest, dass diese bei einem einfachen, kurzen Konsonanten vor diesem, bei längenden Konsonantengruppen und Langkonsonanten mitten in diesen liegen. Wir werden also bei der Zerlegung Silben erhalten, die auf Vokal, und solche, die auf Konsonant enden. Die ersteren sind die offenen, die letzteren die geschlossenen. Die Quantitätenregel lautet nun, anders formuliert: Eine Silbe ist kurz, wenn sie einen Kurzvokal enthält und offen ist. Wenn [kl] in κέκληται wie ein einziger Konsonant gemessen wird, ist eben auch κε vor κλη offen und damit kurz; wenn die Gruppe [kl] aber als längend empfunden, d.h. zweikonsonantisch gemessen wird, würden wir κέκ-λη-ται unterteilen, und die erste Silbe wäre geschlossen und damit lang. Auch die Lautgruppen, die mit den einfachen Buchstaben ζ, ξ, ψ geschrieben werden, werden  aufgeteilt: πορίζεται 'wird besorgt' wird als po-rid-ze-tai (di-dō-di-dō), δεξιός 'rechts, geschickt' als dek-si-os (dō-di-di), θρεψάμενος 'aufgezogen habend' als threp-sa-me-nos (dō-di-di-di) gelesen usw. Eine Silbe kann übrigens einen Langvokal enthalten und zusätzlich geschlossen sein, mehr als lang wird sie dadurch nicht: z.B. att. πρᾱ́ττω, ion. πρήσσω 'ich tue' (dō-dō).



6. Die Akzentuierung der Wörter ist im Griechischen nur zum Teil von ihrer Silbenstruktur abhängig. Grundsätzlich kann der Akzent auf der letzten, zweitletzten und drittletzten Silbe liegen, auf der drittletzten aber nur, wenn die letzte kurz ist. Die Akzentstelle ist für die Bedeutung relevant: καλῶς 'schön' (adv.), κάλως 'Tau, Strick'. Dieser teilweise freie indogermanische Akzent, der auch noch im vedischen Sanskrit und leicht abgewandelt im heutigen Litauischen zu beobachten ist, hat zur Folge, dass man ihn im Griechischen (bis heute) notiert. In der Antike, so berichten uns die antiken Grammatiker, war er vor allem durch Anhebung der Tonhöhe (um ca. eine Quinte) charakterisiert (jedoch war ziemlich sicher auch eine Erhöhung der Lautstärke mit im Spiel), und es werden zwei Intonationen unterschieden: Der Akut, heisst es, bezeichne eine erhöhte Aussprache des betonten Vokals, bei einem Langvokal mit steigender Tendenz; der Zirkumflex, der nur bei Langvokalen vorkommt, bezeichne einen hohen Anfang mit anschliessendem Abfallen (Vokale mit Zirkumflex sind oft das Produkt einer Kontraktion zweier Vokale, deren erster den Akzent getragen hatte, s. die unechten Diphthonge, oben 2). Der Gravis schliesslich sei ohne Anheben der Stimme zu sprechen, also keine eigentliche Intonation.

Wichtig ist im Griechischen wie im Latein (jedenfalls vor der erwähnten Änderung der Quantitätenregelung in der Kaiserzeit), dass unbetonte lange Silben und Vokale die ihnen gebührende Zeit erhalten: Die zweite Silbe in ἄνθρωπος (dō´-dō-di) und die erste in βουλόμεθα (dō-dí-di-di) haben lange Vokale und sind deshalb lang, auch wenn die Hauptintensität nicht auf ihnen liegt. Umgekehrt ist es wichtig, betonte kurze Silben nicht versehentlich zu längen.

7. Wie in jeder Sprache waren auch im Griechischen nicht alle Wörter in einem Satz gleichmässig stark betont. Die Satzmelodie zu rekonstruieren ist aber ebenso schwierig wie im Latein. Während dort gar keine Akzente geschrieben werden, haben die griechischen Grammatiker und Schulmeister in byzantinischer Zeit die Regelung aufgestellt, dass jedes Wort eine προσῳδία tragen müsse. Ausnahmen sind gewisse sogenannt enklitische Wörter, die sich an den Akzent eines vorangehenden Wortes "anlehnen", v.a. Pronomina und Partikeln. Die Enklisenregelung ist im einzelnen ziemlich kompliziert, vor allem bezüglich der "Stützakzente" in Fällen wie ἅπαντές ἐσμεν σοφοί 'alle sind wir verständig' (diese Regel gilt noch heute im Neugriechischen: η οικογένειά μου 'meine Familie'!) oder in Ketten von Enklitika. Unbetontheit erwarten wir aber auch bei anderen Wortarten, v.a. Präpositionen und Artikel, die in vielen Sprachen proklitisch sind, sich also an das folgende Wort anlehnen. Dass diese auch im Altgriechischen unbetont waren, können wir aus der Regelung erschliessen, dass dort, wo ein Spiritus zu schreiben ist, normalerweise kein Akzent erscheint (ἐν, εἰς, ἐκ, ἐξ, ὁ, ἡ, οἱ, α?); offenbar haben Formen wie πρὸ, περὶ, τὸ, το? usw., die im Satzzusammenhang bestimmt nicht mehr Gewicht hatten als die vorher genannten, bloss aus einer Art "horror vacuī" einen Akzent erhalten, weil sie sonst gar keine προσῳδία gehabt hätten. Tatsächlich dienen in scrīptiō continua die Akzente und Spiritus der Erkennbarkeit der Wörter. Überhaupt folgt die griechische Orthographie dem Prinzip, jedes Wort sei so zu schreiben, als ob es isoliert stünde. Deshalb sind auch z.B. – sogar in Inschriften – Schreibweisen wie εἰς τὴμ πόλιν sehr selten, obwohl der Nasal vor dem [p] bestimmt zu aller Zeit als [m], nicht als [n] ausgesprochen wurde. Der Vorteil dieses "isolierenden Prinzips" ist, dass die Wörter und Formen eine immer gleiche Erscheinungsform haben, egal, ob sie in einem Wörterbuch oder in einem Text stehen. Das Prinzip hat die Orthographie in Europa bis heute geprägt.

Die Orthographie des vedischen Sanskrit zeugt vom gegenteiligen Prinzip: Die Wörter sind nur akzentuiert, wenn sie im konkreten Satz auch wirklich akzentuiert waren, und wenn zwischen den Wörtern lautliche Veränderungen eintraten, so ist dies in der Schrift genau vermerkt (sog. Sandhi). Die vedische Orthographie hat den Vorteil (und Zweck), dass die Texte leichter korrekt rezitiert werden können.

Ein Vergleich des Vedischen mit dem Altgriechischen, zweier indogermanischer Sprachen also, die nicht nur ohnehin eng verwandt, sondern sogar in ihrer Intonation und Akzentregelung noch besonders ähnlich sind, kann uns nun über die Satzmelodie des Griechischen einige instruktive Dinge lehren, speziell über die Nicht-Betonung gewisser Wörter. Beispielsweise sind nicht nur viele Pronomina, Partikeln usw., sondern auch Vokative und finite Verben im Hauptsatz, wenn sie nicht in erster Position im Satz stehen, unbetont. Dieses Gesetz der nachgestellten und unbetonten Wörter (sog. Enklisengesetz, entdeckt von Jacob Wackernagel 1892) gilt etwa auch im Deutschen: Hans sieht Paul und ruft: "Paul, he, Paul, wart mal 'n Augenblick!" – Gleich darauf: "Grüss dich, Paul, alter Freund, hast du Zeit für 'n Bier?" Oder im Zürichdeutschen: Chunsch hüt z'aabig zue mer? – Ja gern, oder chunsch duu wider emaal zu miir? – Also guet! Ich bin imer gern bii der! – Und iich bi diir! Chunsch grad mit mer? Hier verändern sich sogar die Formen der Präpositionen und Pronomina deutlich, je nachdem, ob sie betont sind oder nicht (zue, bii, miir, diir vs. zu, bi, mer, der usw.).

Ein wichtiges Kriterium für die Betonung der Wörter im Satz ist ihr Neuigkeitsgehalt: Wörter, die wichtige neue Information bringen, nennt man in der modernen Sprachwissenschaft Focus, im Gegensatz zu Topic, den Inhalten, die schon bekannt sind (oder sich von selbst verstehen) und über die man weiterspricht. Die beiden Funktionen haben Auswirkungen auf die Stellung der betreffenden Wörter im Satz und auf ihre Betonung.

Hier zur Illustration ein witzig-moralischer Zweizeiler aus der Sammlung der Sprüche, die Menander zugeschrieben sind (aber wohl nur zum kleinen Teil von ihm stammen):

   

Ἅπαντές ἐσμεν εἰς τὸ νουθετεῖν σοφοί,
αὐτοὶ δ’ ἁμαρτάνοντες οὐ γιγνώσκομεν.


Alle sind wir im Zurechtweisen verständig,
wenn wir aber selbst Fehler machen, erkennen wir es nicht.

Der erste Vers erhält durch die herkömmliche Akzentuierung eine plausible Satzmelodie: Drei Focus-Wörter stehen im Kontrast zu einem Enklitikon (Verbum) und zwei Proklitika (Präposition und Artikel). Im zweiten Vers aber resultiert eine wenig plausible Melodie: Das Demonstrativum αὐτο? soll ohne Betonung sein? Dafür soll ?μαρτάνοντες den ersten Akzent tragen, die Negation unbetont und das abschliessende Verbum dafür wieder betont sein? Eine ganz andere Satzmelodie drängt sich auf: αὐτο? muss aus semantischen Gründen (Gegensatz: 'die andern' vs. 'wir selbst') und wegen seiner Erststellung stark betont gewesen sein, und diese Betonung wird noch kontrastiv unterstrichen durch das enklitisch gestellte, unbetonte (und trotzdem nicht ganz unwichtige) δ?. Das Partizip ?μαρτάνοντες ist ein Topic-Wort und damit eher schwach betont (es war ja schon vom 'Zurechtweisen' die Rede; dass es ums 'Fehler-Machen' geht, ist also bekannt). Beide unbetonten Wörter, δ’ und ἁμαρτάνοντες, wirken nun regelrecht als "Abschussrampe" für die Verneinung ο?, die als "moralische Anklage" deutliche Emphase trägt. (Dies bedeutet natürlich nicht, dass ο? nicht auch oftmals unbetont war, z.B. in οὐδείς oder in: Βουλόμεθα πλουτεῖν πάντες, ἀλλ’ οὐ δυνάμεθα.) Das Verbum γιγνώσκομεν schliesslich hat kaum noch Neuigkeitswert, ist gegenüber ο? auch enklitisch gestellt, fällt also wieder ab, wie es im übrigen gegen Satz- und Redeschluss normal ist.

Zwar können wir auch durch solche Überlegungen nicht sicher sein, die originale Satzmelodie wiederzuerlangen. Denn es sind zwei verschiedene Lösungen aus dem Dilemma denkbar: Entweder geben die byzantinischen Akzentuierungsregeln die Realität in "klassischer" Zeit teilweise falsch wieder; oder neben der Tonhöhe war auch die Tonintensität relevant, wurde aber nicht bezeichnet. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass beides zutrifft, aber die Entscheidung, wo welche Lösung zutrifft, ist aus heutiger Sicht kaum mehr schlüssig zu treffen.

Die Beschäftigung mit Dialekten heutiger Sprachen zeigt im übrigen, wie verschieden die Intonation auf kleinstem Raum sogar in sehr nahe verwandten Idiomen sein kann. Ja, sogar in ein und demselben Idiom kann ein Satz kann bekanntlich auf ganz verschiedene Weise "korrekt" intoniert werden, je nach "pragmatischem" Unterton: De Tifiger isch de Geschwinder 'Der Flinkere ist der Schnellere', 'First come, first served' (in einer anderen Sprache als dem Zürichdeutschen fühle ich mich für solche Feinheiten nicht kompetent genug).

Doch werden wir, wenn wir unsere Texte nur genau durchdenken und uns um ein hundertprozentiges Verständnis bemühen, auf diese Weise auch eine tote Sprache zumindest plausibel und ansprechend, vielleicht sogar dann und wann richtig schön erklingen lassen können – auch wenn wir immer einen fremdländischen "accent" behalten werden. Aber wen sollen wir fragen?

Rudolf Wachter
06.05.2007