Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft

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Projekt 'Performance'
Aussprache und Rezitation lateinischer und griechischer Texte (mit Audio-Files)

Die "richtige" Aussprache des Lateins

1. Was ist die richtige Aussprache des Französischen, Italienischen, Deutschen, Englischen? Richtig, es gibt verschiedene! Eine allein richtige Aussprache des Lateins gab es ebenfalls nie. Doch kennen wir leider auch die verschiedenen Aussprachen, die einmal richtig waren, nicht genau. Ebensowenig wie die des Französischen von Molière, des Italienischen von Dante, des Deutschen von Luther und des Englischen von Shakespeare. Es gibt keine Tonaufnahmen aus jenen Zeiten.

Trotzdem kann die Sprachwissenschaft vieles in der Aussprache solcher "toter" Sprachzustände erschliessen und daraus eine plausible Gesamtaussprache rekonstruieren. Für das Latein helfen uns dabei vor allem folgende Faktoren: die Metrik der lateinischen Dichtung, der Vergleich mit anderen Sprachen der Antike und der Vergleich mit den romanischen Tochtersprachen.

Ein erschwerender Faktor ist dabei die Zeit: In den acht Jahrhunderten, aus denen uns antike lateinische Texte überliefert sind (ca. 200 v. Chr. bis 600 n. Chr.) hat sich die Aussprache, das wissen wir sicher, stark geändert. Woran sollen wir uns halten? Die sinnvollste Richtlinie ist nach wie vor die Aussprache in der Stadt Rom zur Zeit der ausgehenden Republik und der beginnenden Kaiserzeit, also etwa das Latein Ciceros und Vergils, vor allem weil dieses am besten bezeugt und auch für die Grammatik, die wir lernen, massgebend ist.

In den einzelnen Sprachtraditionen (deutsch, französisch, italienisch, englisch usw.) sind gewisse Abweichungen von der folgenden Aussprachenorm in Gebrauch. Das ist nicht schlimm, mindestens solange die Aussprache nicht an Eindeutigkeit einbüsst.

2. Bevor wir uns die einzelnen Laute vornehmen, werfen wir einen Blick auf das römische Alphabet. Es besteht nur aus Grossbuchstaben (den Unterschied zwischen Gross- und Kleinbuchstaben gibt es erst seit dem Mittelalter) und enthält folgende Buchstaben:

A B C D E F G H I K L M N O P Q R S T V X Y Z

K ist ganz selten, Y und Z kommen nur in griechischen Lehnwörtern vor, X bedeutet [ks], also zwei Laute. Zwei Buchstaben, I und V, können sowohl einen Vokal als auch einen Konsonanten bezeichnen; I wird heute in beiden Fällen mit i wiedergegeben (lateinische Texte enthalten also kein j), vokalisches V mit u, konsonantisches mit u oder v, je nach Sprach- und Verlagstradition.

Die Vokale werden etwa wie im Deutschen oder Italienischen ausgesprochen: i, e, a, o, u. Zu beachten ist dabei, dass jeder dieser Vokale lang oder kurz sein kann, was genau zu beachten ist. Am besten lernt man die Quantitäten gleich von Anfang an richtig. Das Wort malus mit kurzem [a] bedeutet "schlechter Kerl", malus mit langem [a:] "Apfelbaum" (der Doppelpunkt bedeutet Länge). In der Schrift wurde dieser Unterschied normalerweise nicht ausgedrückt. Heute setzen viele einen horizontalen Strich (mālus) oder einen Zirkumflex (mâlus) auf die Langvokale.

Es gibt auch Diphthonge, d.h. Vokale, die während ihrer Dauer ihre Qualität verändern. Sie gelten immer als lang. Am häufigsten sind im Latein ae und au, seltener ist oe (fēriae, Claudius, poena). (Oft braucht man für ae und oe auch die Aussprache [ä:] und [ö:], die so ähnlich schon zu Ciceros Zeiten existierte, vor allem auf dem Land; dort sagte man allerdings auch [o:] für au.) Sehr selten kommen auch eu und ei (nicht wie in dt. neu und drei auszusprechen!) sowie ui vor (seu, deinde, huic).


Nun zu den Konsonanten:

Die Laute b, d, g (stimmhaft) und p, t, c (k) (stimmlos) sind wie in den romanischen Sprachen zu sprechen. Die stimmlosen Laute hatten also kein nachfolgendes [h] (wie oft im Norddeutschen und Englischen). Für g und c gilt die heutige Aussprache z.B. vor a, o, u, nicht diejenige vor e und i (vgl. die beiden Varianten in frz. garage, ital. calcio), also [kikero:], nicht [tsitsero:] usw.

Konsonantisches i klingt wie y in engl. you (iugum "Joch"). Konsonantisches u (oft v geschrieben) klingt wie w in engl. we (vīnum "Wein" also nicht wie engl. vine "Rebe", dt. Wein, frz. vin, sondern wie in engl. wine).

Das konsonantische u verbindet sich mit vorgängigem [k] zu [kw], geschrieben qu. Dieses gilt als ein Konsonant, obschon es mit zwei Zeichen geschrieben wird, z.B. reliquī "die übrigen", reliquiae "die Überreste".

Die Dauerlaute f, l, m, n sind etwa wie heute auszusprechen. Das n passt sich oft an nachfolgende Laute an. Vor b, p, m schreibt man es meist m (immortālis "unsterblich"). Vor g, c, qu resultiert der Laut wie in dt. Ding, z.B. incautus "unvorsichtig", für den aber kein spezieller Buchstabe existiert. Mit diesem ng-Laut wird korrekterweise auch ein g vor n ausgesprochen, d.h. ignōtus "unbekannt" und ignis "Feuer" lauten so, als ob sie ingn- geschrieben wären. Vor einem s wurde das n sehr schwach ausgesprochen; dafür scheint der vorangehende Vokal gelängt worden zu sein. Das s war stimmlos (etwa wie im Spanischen), h wurde zu Ciceros Zeit auch in Rom nicht mehr von allen Leuten ausgesprochen, r war wohl meist gerollt.

3. Sehr wichtig für den Klang der lateinischen Sprache und insbesondere der Poesie ist der Rhythmus der Silben und Wörter. Eine Silbe kann entweder lang oder kurz sein, wobei eine lange Silbe etwa doppelt so lang wie eine kurze ist. Ein Wort wie cecidisse "gefallen sein" beispielweise hat den Rhythmus "kurz-kurz-lang-kurz" (di-di-dō-di, wie das F im Morsealphabet) und misst somit zweieinhalb Längen oder fünf Kürzen.

Es gibt zwei mögliche Gründe, warum eine Silbe lang ist: Erstens weil ihr Vokal lang ist ("Naturlänge", sie ist "nāturā lang"). Zweitens weil auf den Vokal, auch wenn er kurz ist, so viele Konsonanten folgen, dass die Silbe nicht schnell und kurz ausgesprochen werden kann ("Positionslänge, sie ist "positiōne lang"). Denselben Rhythmus wie dō-di-di-dō-di-di hat z.B. auch dip-di-di-dip-di-di, dadurch, dass in der ersten und vierten Silbe nach dem kurzen Vokal jeweils die Konsonantengruppe [pd] folgt, die deutlich mehr Zeit beansprucht als ein einzelnes [d]. Die einzigen Konsonantengruppen, die viele für schnell aussprechbar halten, sind diejenigen vom Typ [br] (sogenannte Gruppen "mūta cum liquidā"): Man kann recht gut regelmässig und schnell sagen bri-di-bri-di. Als vollwertige Konsonantengruppen, die eine Silbe längen, gelten schliesslich auch die Langkonsonanten, die man deshalb sinnvollerweise doppelt schreibt (sog. Geminaten). Der Römer hat in der Aussprache deutlich unterschieden zwischen erant "sie waren" (di-dō) und errant "sie irren" (dō-dō), und wir müssen das ebenfalls sorgfältig beachten! Ein solcher Fall ist die dritte Silbe in cecidisse: Das [i] ist zwar kurz, aber das folgende [s:] (ss) ist lang, also ist die ganze Silbe lang. Dasselbe gilt für lange Verschluss(öffnungs)laute; da diese nicht wirklich lange ausgesprochen werden können, wird der Verschluss mit Verzögerung aufgebrochen: reperit "er findet", repperit "er hat gefunden".







Sinnvoll sind in diesem Zusammenhang auch die Bezeichnungen "offene" und "geschlossene" Silben. Wenn wir die Wörter und Sätze in Silben zerlegen und beobachten, wo die Silbengrenzen liegen, werden wir feststellen, dass diese bei einem einfachen, kurzen Konsonanten vor diesem, bei längenden Konsonantengruppen und Langkonsonanten mitten in diesen liegen. Wir werden also bei der Zerlegung Silben erhalten, die auf Vokal, und solche, die auf Konsonant enden. Die ersteren sind die offenen, die letzteren die geschlossenen. Die Regel ist nun die: Eine kurze Silbe muss einen Kurzvokal enthalten und offen sein (und wenn br wie ein einziger Konsonant gemessen wird, was meist der Fall ist, ist eben auch di vor bri offen und damit kurz); alle anderen Silben sind lang, z.B. die Anfangssilben in -num, Clau-di-us, ig-nis (ing-!), er-rant, rep-pe-rit (das erste "p" ist der verlängerte Verschluss), sowie die dritte in ce-ci-dis-se. Auch die Lautgruppe x (= ks) wird aufgeteilt: sexiēs "sechsmal" (sek-si-ēs). Eine Silbe kann übrigens einen Langvokal enthalten und zusätzlich geschlossen sein, mehr als lang wird sie dadurch nicht: z.B. scrīp-tor "Schreiber" (von scrī-be-re "schreiben").

Einige weitere Einzelheiten der Aussprache sind vor allem für die korrekte Rezitation von Versen wichtig, galten aber wohl durchwegs auch in Prosa: (1) Die Silbeneinteilung geht über Wortgrenzen hinweg; (2) Langkonsonanten am Wortende werden nur einfach geschrieben (z.B. ŏs "Knochen", mĕl "Honig", păr "gleich", hŏc "dies"); (3) auslautende Vokale, auch gefolgt von -m, werden vor anlautendem Vokal unterdrückt (elidiert; Elision); (4) der Konsonant h hat keine Wirkung. Beispiele: quod genus hoc hominum? "Was ist das für ein Menschengeschlecht?" In Silben: quod-ge-nu-shok-kho-mi-num. — "heu fuge, nāte deā, tēque hīs" ait "ēripe flammīs! / hostis habet mūrōs; ruit altō ā culmine Troia. "Wehe, flieh, aus einer Göttin Geborener, entreiss dich diesen Flammen! Der Feind hat die Mauern; es stürzt von hohem Gipfel Troia." In Silben: heu-fu-ge-nā-te-de-ā-tē-quhī-sa-i-tē-ri-pe-flam-mīs / hos-ti-sha-bet-mū-rōs-ru-i-tal-tā-cul-mi-ne-Troi-a.

4. Die Silbenstruktur eines Wortes ist verantwortlich für seine Akzentuierung. Die Regelung ist einfach: Der Akzent sitzt normalerweise auf der vorletzten Silbe (ausser natürlich bei einsilbigen Wörtern); bei längeren Wörtern weicht er, wenn die vorletzte Silbe kurz ist, auf die drittletzte aus, z.B. mit langer betonter Silbe scrībere, taedium "Ekel", mit kurzer reliquī, pariēs "Wand". Der Akzent, so berichten uns die antiken Grammatiker, sei vor allem durch Anhebung der Tonhöhe (um ca. eine Quinte) realisiert worden, jedoch war ziemlich sicher auch eine Erhöhung der Lautstärke mit im Spiel.

Eine häufige Quelle ungenauer Aussprache sind die langen Vokale unakzentuierter Silben. Deren Beachtung ist äusserst wichtig für das richtige Verständnis der Texte, speziell in Poesie. So sind etwa manus "Hand" (di-di) und manūs "Hände" (di-dō), cecidisse "gefallen sein" (di-di--di) und cecīdisse "gefällt haben" (di-dō--di) deutlich verschieden; der Akzent aber liegt jeweils auf der gleichen Silbe. Diese Schwierigkeit rührt einzig von der Ungenauigkeit der Schrift her: Was man venimus schreibt, kann drei verschiedene Dinge bedeuten, venīmus "wir kommen", vēnimus "wir sind gekommen", vēnīmus "wir werden verkauft"; ein Römer hätte diese Formen nie falsch gesagt oder (in mündlicher Konversation) falsch verstanden.



5. Wie in jeder Sprache waren auch im Latein nicht alle Wörter in einem Satz gleichmässig stark betont. Die Satzmelodie einer früheren Sprache zu rekonstruieren ist aber äusserst schwierig. Oftmals hilft wieder der Vergleich mit heute gesprochenen Sprachen oder Sprachen mit einer genaueren Schrift, sowie die Stellung der Wörter im Satz. Hier soll vor allem auf die sogenannt "nachgestellten" und deshalb unbetonten Wörter aufmerksam gemacht werden, z.B. hoc enim "dies nämlich" oder quis "wenn einer", virumque "und den Mann", sehr oft übrigens auch das Verbum, z.B. arma virumque canō "die Waffen und den Mann besinge ich", oder ein Vokativ, z.B. adror, pariēs "ich wundere mich, Wand!" (hier ein Verbum in betonter Stellung!). Die Sprachwissenschaft kennt jedoch noch viel mehr Kriterien, die eine plausible Satzmelodie rekonstruieren helfen.

Im folgenden Satz, einem witzigen poetischen Zweizeiler an einer (stehengebliebenen!) Wand in Pompeji, waren wohl nur die drei unterstrichenen Wörter wirklich betont, einige andere "halb", einige gar nicht:

   

Adror, pariēns, tē nōn cecidisse ruīnīs,
quī tot scrīptōrum taedia sustineās!


Ich wundere mich, Wand, dass du noch nicht in Trümmer gefallen bist,
die du so viel Ekelzeug von (so vielen) Schreibern tragen musst!
(pariens ist mit -n- geschrieben)

Und schliesslich ist, ganz generell, die entscheidende Voraussetzung für eine gute Rezitation das hunderprozentige Verständnis des Textes: Wörter, Grammatik, Stil, Sinn. Um dieses zu erlangen, dürfen wir keine Mühe scheuen! Ja, aus der Rezitation geht umgekehrt hervor, ob jemand einen Text verstanden hat oder nicht. (Dies könnte in Prüfungen genutzt werden: Wer einen Text lebendig und packend vorlesen kann, braucht ihn nicht zu übersetzen; er oder sie hat ihn verstanden – und umgekehrt!)

Auf diese Weise können wir auch eine tote Sprache plausibel und ansprechend erklingen lassen. Wir sind uns der verbleibenden Unsicherheiten im Detail wohlbewusst. Doch dies zum Trost: Ein Römer würde uns mit Sicherheit mühelos verstehen. Und Englisch, obwohl kein bisschen "tot", wird heute von vielen auch nicht authentischer ausgesprochen! Doch ein leichter accent stört auch in einer modernen Sprache nicht, wenn man erkennt, dass einer weiss, wovon er spricht.

Rudolf Wachter
19.01.2007

 

 Inhalt: Rudolf Wachter, Webmaster: info-klaphil@unibas.ch, 19.01.2007